Mittwoch, 21. Oktober 2020

Redebeitrag des Augsburger Flüchtlingsrates auf der Kundgebung "Moria evakuieren, jetzt!"

'Der ‚Ausnahmefall Moria‘ wird zum Prinzip europäischer Flüchtlingspolitik erhoben'

Redebeitrag des Augsburger Flüchtlingsrates auf der Kundgebung "Moria evakuieren, jetzt!"

21.10.2020

 

Liebe Freund*innen und Mitstreiter*innen,

 

vor etwas mehr als einem Monat haben wir vom Flüchtlingsrat gemeinsam mit dem AK Lesbos eine Kundgebung am Elias-Holl-Platz abgehalten, um die Zustände auf Lesbos nach dem verheerenden Brand im Elendslager Moria zu skandalisieren: Die Zustände auf Lesbos selbst, aber auch den erbärmlichen Zustand des selbsterklärten ‚Horts der Menschenrechte‘, der Europäischen Union, die sich zuletzt vor allem aufgrund unterlassener Seenotrettung und Gewalt gegen Geflüchtete an ihren Außengrenzen auszeichnet.

In diesem Monat hat sich ein klein wenig geändert, vieles ist gleich geblieben oder hat lediglich einen neuen Anstrich verpasst bekommen.

Geändert hat sich beispielsweise der geographische Ort des Elens auf Lesbos. Knapp zehn Kilometer entfernt von Moria, in Kara Tepe, wurde in aller Eile ein neues Lager errichtet, das dem abgebrannten Camp in nichts nachsteht. Von Nato-Stacheldraht umzäunt und von massiven Polizeikräften bewacht, leben dort erneut um die zehntausend Menschen auf engstem Raum zusammen, die Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung ist schlecht, die Hygienesituation katastrophal, das Coronavirus grassiert und die einsetzenden Herbststürme verwüsten das Lager. Der heftige Regen durchdringt die notdürftig errichtete Zeltstadt. Alle von euch haben sicherlich schon die Bilder des verschlammten Camps gesehen. Hilfsorganisationen beklagen sich zudem über eine massive Behinderung ihrer Arbeit durch die griechischen Behörden und werden teilweise gar nicht erst ins Land gelassen.

Bei der EU hingegen ändert sich nichts - ihre brutale Abschottungspolitik bekommt nur mal wieder einen neuen Namen. Dahinter steckt aber nichts anderes als die Errichtung noch höherer Mauern, die Etablierung noch schärferer und noch menschenfeindlicherer Abschreckungsmaßnahmen. Mit dem »New Pact on Migration and Asylum« der deutschen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vom 23.09.2020 werden an den Außengrenzen neue Flüchtlingslager unter europäischer Flagge entstehen. Der ‚Ausnahmefall Moria‘ wird zum Prinzip europäischer Flüchtlingspolitik erhoben.

In den Lagern sollen Geflüchtete festgesetzt, in Grenzverfahren selektiert und direkt wieder abgeschoben werden. Anstatt Schutzsuchende aufzunehmen, können die rechten Feinde von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ihren Beitrag zur europäischen Solidarität durch sogenannte »Abschiebepatenschaften« leisten. Man könnte meinen, der neue Pakt sei direkt von den Orbans, Kurzs und Seehofers dieser EU geschrieben.

Seehofer, seine christsozialen Amigos und Bündnispartner*innen sind es auch, die nach wie vor alle Initiativen aus den zahlreichen Bundesländern und Städten blockieren, die ganz wesentlich durch den Protest der Straße – durch uns und viele andere also – vorangetrieben und überhaupt erst auf die Agenda gesetzt wurden. Aufnahmewillige Kommunen und Länder wie Thüringen und Berlin werden ausgebremst mit fadenscheinigen verwaltungsrechtlichen Taschenspielertricks.

Auch in der Stadt Augsburg ist es uns, einem großen und vielfältigen Bündnis aus Initiativen und Organisationen, gelungen, dass sich die Stadtregierung des Themas angenommen hat, nachdem wir über Jahre hinweg als Symbolpolitiker*innen verunglimpft worden sind. Eine sichere Hafenstadt sind wir zwar immer noch nicht, aber immerhin ist dabei ein Dreiklang mit vier Punkten herausgekommen. Angesichts des Elends und Leids auf Lesbos und anderswo ist das ist nicht viel, aber auch nicht nichts.

In Wirklichkeit aber ist es die Stadtregierung, die Symbolpolitik betreibt, wenn sie etwa die Durchführung des sogenannten NEST-Programms propagiert. NEST, das steht für Neustart im Team und ist im Grunde nichts anderes als eine besonders zynische Verlagerung von asylrechtlichen Staatsaufgaben auf die Zivilgesellschaft.

Mindestens fünf sogenannte Mentorinnen und Mentoren müssen sich gemeinsam dazu verpflichten, einen Flüchtling oder eine Familie ideell und finanziell zu unterstützen. Während die ideelle Unterstützung darin besteht, eine Wohnung zu suchen, besteht die finanzielle darin, dass die Mentor*innen für zwei Jahre im Voraus die Miete bezahlen müssen. Wer soll das individuell stemmen können? Durch diese zynische Regelung werden die Hürden für das Programm derart hoch gehängt, dass man eigentlich von einem Aufnahme- und IntegrationsVERHINDERUNGSprogramm sprechen muss.

Jede und jeder, der oder die dieses Programm propagiert, ist angesichts dessen einer schönfärberischen Symbolpolitik zu bezichtigen. Wohlwissend, dass eine Umsetzung nahezu unmöglich ist, heftet man sich und der angeblich so flüchtlingsfreundlichen Kommune ein symbolisches Feigenblatt der suggerierten Humanität an.

Wir sind heute hier um zu signalisieren, dass das auch anders gehen kann, ja, anders gehen muss! Und wir werden auch weiterhin dafür lautstark auf die Straße gehen. Gemeinsam wollen wir dafür kämpfen, dass Bayern – auch auf Druck der Stadt Augsburg hin – eine solidarisches, großherziges Landesaufnahmeprogramm auflegt.

Und wir kämpfen heute und hier dafür, dass die Stadt Augsburg

1. Plätze in Unterkünften vorhält, um eine schnelle Aufnahme zu ermöglichen, statt vorhandene Unterbringungskapazitäten abzubauen.

2. Sofort mit anderen bayrischen Kommunen Kontakt aufnimmt, um ein starkes Bündnis für ein Landesaufnahmeprogramm zu schmieden.