Dienstag, 15. September 2020

Redebeitrag des Augsburger Flüchtlingsrates auf der Kundgebung "Evakuiert Moria - Wir haben Platz!"

 2015 muss sich wiederholen

Redebeitrag des Augsburger Flüchtlingsrates auf der Kundgebung "Evakuiert Moria - Wir haben Platz!"

12.09.2020

 

Hallo zusammen,

vielleicht habt ihr es mitbekommen: In der taz ist vor ein einigen Wochen eine heftige Satire veröffentlicht worden, die über die Abschaffung der Polizei sinniert. Es gab dann massive Kritik daran – unter anderem von Innenminister Seehofer, der mit einer Anzeige gedroht hat. Am Dienstag dieser Woche hat der Deutsche Presserat die Beschwerden gegen die umstrittene Satire als unbegründet zurückgewiesen. Die Satire sei von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Am Mittwoch dieser Woche hat sich Seehofer darüber aufgeregt und Folgendes gesagt:

„Für mich ist diese Bewertung eine unerträgliche Verharmlosung. Wenn eine ganze Berufsgruppe, die tagtäglich den Kopf für uns hinhält, in dieser brachialen Weise bewusst herabgesetzt und verunglimpft wird, geht es nicht mehr um Geschmack, sondern um unser gemeinsames Wertesystem.“

Welches verdammte Wertesystem meint Seehofer? Er sagt das an dem Tag, an dem von diesem angeblichen Wertesystem nichts übrig geblieben ist außer Asche.

Seehofer hat kein Wertesystem. Seehofer schert sich einen Dreck um Werte. In seiner Welt sind Migrantinnen und Migranten eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit. In Wirklichkeit ist aber Seehofer eine Gefahr.

Denn Seehofer gestaltet den öffentlichen Diskurs über Migration maßgeblich mit.

Er ist es, der an seinem 69. Geburtstag Witze darüber macht, dass am selben Tag 69 Afghanen abgeschoben wurden. Geht’s noch?!

Er ist es, der gesagt hat, man müsse sich „bis zur letzten Patrone gegen eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme“ wehren.

Er ist es, der seinen faschistoiden Freund Viktor Orbán in Bayern gastieren ließ, um seine Flüchtlingsfeindlichkeit öffentlichkeitswirksam zu demonstrieren.

Seehofer muss in meiner Rede als Stellvertreter herhalten. Als Stellvertreter für Politikerinnen und Politiker, die immer und immer wieder auf diese Weise Flucht und Migration öffentlich thematisieren und dadurch die repressive Asylpolitik rechtfertigen.

Seit 2014 sind 20.000 Menschen vor den Küsten Europas ertrunken. Die allermeisten wären nicht tot, wenn es legale Fluchtrouten und ein ordentliches Seenotrettungsprogramm gäbe und wenn zivile Seenotrettungsorganisationen nicht an ihrer Arbeit behindert werden würden.

Seit 2015 werden die menschenverachtenden Lager an den EU-Außengrenzen betrieben.

Die Küstenwachen von Griechenland und Malta sind an illegalen Push-Backs beteiligt. Dafür gibt es Belege. Die Staaten werden aber nicht sanktioniert.

Das alles und noch mehr ist vielen Leuten völlig egal, weil sie Geflüchtete als Gefahr wahrnehmen, weil sie nicht begreifen, dass Fluchtursachen auch etwas mit uns und unserem Lebensstil zu tun haben. Weil sie auf die Rassisten und Populisten hören.

Das europäische Grenzregime verteidigt nicht die Sicherheit Europas, sondern die ökonomische Vormachtstellung. Es werden unfaire Privilegien verteidigt – koste es was es wolle.

Dem muss endlich deutlich widersprochen werden.

Die ganzen Politikerinnen und Politiker, die jetzt völlig zurecht die Aufnahme von Menschen in höchster Not fordern, sollen bitte auch dazu beitragen, dieses europäische Asylsystem, an dem Deutschland so fleißig mitarbeitet, nachhaltig in Frage zu stellen.

Wir müssen dem Mantra widersprechen, dass sich 2015 nicht wiederholen darf. Wenn Menschen Schutz suchen – natürlich muss sich dann die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wiederholen. Natürlich muss sich dann die Aufnahme von Schutzsuchenden in großem Stil wiederholen.

Besonders hoffnungsvoll bin ich leider nicht. Das Bundesinnenministerium hat im Vorfeld der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein Konzeptpapier vorgelegt, in dem es heißt, dass Schutzsuchende notfalls auch in geschlossene Lager gesperrt werden müssten, um die Vorprüfung vor dem Asylverfahren durchsetzen zu können. Inhaftierungslager, nicht für Straftäterinnen und Straftäter, sondern für Schutzsuchende. Menschenrechte ade. Welches verdammte Wertesystem? Geht’s eigentlich noch?!

S. G. für den Augsburger Flüchtlingsrat